Der Geschäftsführer der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft nimmt in seinem Gespräch mit der Journalistin Alexandra Nagiller vom WEEKEND-Magazin Stellung zur aktuellen Debatte um die aktive Sterbehilfe.
Aus Ihrer Praxis: Wie groß ist der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe?
Werner Mühlböck: Der ausgesprochene Wunsch nach Hilfe zum Suizid oder nach Tötung auf Verlangen kommt bei uns selten vor, wenngleich wir eine leicht steigende Tendenz wahrnehmen. Ein geäußerter Tötungswunsch ist oft ein Hilfeschrei und Ausdruck von existentiellem Leiden, das Menschen bitter machen kann. Dafür gilt es Verständnis aufzubringen, den geäußerten Sterbewunsch ernst zu nehmen und darüber zu reden. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass sich der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe in dem Maß reduziert, in dem Menschen wirksame Linderung von Schmerzen, Zuwendung und Entlastung erfahren. Mehrfach durften wir die Dankbarkeit unserer Patienten erleben, wenn es ihnen gelang, ihr Leben zu Ende zu leben, weil sie gerade in den letzten Wochen und Tagen noch viel bewirken und erleben konnten, was sie mit Stolz, Befriedigung und Dankbarkeit erfüllte.
Wie positioniert sich die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft in dieser Debatte?
Werner Mühlböck: Die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft ist für die Aufrechterhaltung der geltenden gesetzlichen Regelungen in Österreich. Innerhalb dieses Rahmens orientieren wir uns am Willen der Betroffenen. Wir bejahen das Leben und sehen das Sterben als einen normalen, zum Leben gehörenden Prozess. Vom Begriff her steht Hospiz (lat. hospitium: Gastfreundschaft) für Begleitung und Unterstützung für Menschen, die auf einer unbekannten und oft angstvollen Reise sind. Hospiz ist nicht an einen Ort oder eine Einrichtung gebunden, sondern eine Haltung gegenüber leidenden und sterbenden Menschen. Vor diesem Hintergrund haben wir große Sorge, dass Beihilfe zur Tötung zu einer medizinischen Dienstleistung wird, die eingefordert werden kann und damit das Selbstverständnis der helfenden Berufe erschüttert. Wir sind auch in Sorge, dass dem Leben im Leiden und im Angewiesen-Sein jeder Sinn abgesprochen wird und beeinträchtigte Menschen unter Druck geraten, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, um anderen nicht zur Last zu fallen.
Wie schaut konkret Ihre Arbeit aus?
Werner Mühlböck: Kompetente Teams aus Ärzt*innen, diplomierten Pflegespezialist*innen, Therapeut*innen und anderen Professionen behandeln und begleiten schwerkranke und sterbende Menschen und ihre Angehörigen daheim, in unserem Tageshospiz und auf unserer Hospiz- und Palliativstation. Ziel ist eine Verbesserung der Lebensqualität durch eine ganzheitliche Betreuung der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse. Langjährige Erfahrung und ständige Weiterbildung ermöglichen zum Beispiel in der Behandlung von Schmerzen eine breite Palette an Möglichkeiten der Linderung. Unter dem Dach der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft arbeiten 85 hauptamtliche Mitarbeiter*innen. Teile unserer Angebote stehen 24 Stunden an 7 Tagen pro Woche zur Verfügung. Eine weitere essentielle Basis für die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft sind die qualifizierten 280 ehrenamtlichen Hospizbegleiter*innen, die in 23 Teams in allen Bezirken Tirols Betroffenen Zuwendung schenken und Entlastung ermöglichen. Darüber hinaus bieten wir im Rahmen unserer hospiz.palliativ.akademie Lehrgänge, Seminare und Vorträge an. Ziel dabei ist eine möglichst breite Streuung von Wissen, Fertigkeiten und Haltungen bei Spezialisten und in der Gesellschaft ganz allgemein.
Und warum ist ein „zu Ende gelebtes Sterben“ wichtig?
Werner Mühlböck: Weil das Recht auf den begleiteten Suizid und auf Tötung schnell zu einer Pflicht zum sozialverträglichen Frühableben werden kann. Zum Beispiel gibt es in Kanada, wie in anderen Ländern auch, bereits Berechnungen, wie viel Geld man durch „Euthanasie“, wie sie dort genannt wird, einsparen kann. Wer aktive Sterbehilfe als einen geglückten Fall von Autonomie hochstilisiert, übersieht die existentiell soziale Dimension des Menschen: seine fundamentale Angewiesenheit auf andere, sein Eingebunden-Sein in Gemeinschaft. Wir sind alle miteinander verbunden, keiner ist eine Insel für sich. Es gibt ein Recht auf Leben. Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert, sondern zugelassen wird. Aber es gibt kein Recht auf Tötung. Aufgabe des Staates ist es nicht, Tötungswünsche zu regeln, sondern Leben zu schützen.
Aktuell wird das Verbot der Mitwirkung am Suizid vom VfGH hinterfragt. Wie stehen Sie dazu?
Werner Mühlböck: Aktuell ist dies ja in der Schweiz, den Niederlanden, Luxemburg, Belgien, Kanada und seit Februar auch in Deutschland erlaubt. Die in Deutschland im Februar dieses Jahres im Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidung erlaubt künftig eine geschäftsmäßige Hilfe beim Suizid. Demnach umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, so befanden die Richter. Dieses Urteil stellt einen Bruch dar. Nicht mehr das Leben wird als höchstes zu schützendes Gut gesehen, sondern der Wille des Selbst, das individuelle sich wandelnde Ich. Dies stellt einen gravierenden Einschnitt in eine bisher auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. Dass eine derartige Gesetzesänderung einen Damm öffnet, der sich automatisch immer weiter verbreitert, zeigt das Beispiel der Niederlande. In den Niederlanden sind der assistierte Suizid und die Tötung auf Verlangen seit 2002 legalisiert. Seither gab es dort eine stetige Steigerung der jährlichen Tötungen. So haben im Jahr 2019 in den Niederlanden 6.361 Menschen aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen. Zum Vergleich: Im Land Tirol sind im selben Jahr insgesamt 6.237 Menschen verstorben. Der Ethiker Theo Boer, er hat über neun Jahre mehr als 4.000 Fälle in den Niederlanden begutachtet, appelliert an Österreich, diese Büchse der Pandora nicht zu öffnen. Er kennt Stadtteile, in denen bereits 14% aller Todesfälle von aktiver Sterbehilfe verursacht werden. Assistierter Suizid und Tötung auf Verlangen gehören bereits zu den häufigsten Todesursachen in den Niederlanden. Angebot erzeugt Nachfrage und erfahrungsgemäß weitet sich das Angebot aus: zum Beispiel auf schwerkranke Kinder oder Menschen mit Demenz.
Warum polarisiert das Thema so? Geht die Diskussion in die richtige Richtung?
Werner Mühlböck: Das Thema polarisiert, weil es unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit etwas aufzeigt, das uns alle mit Sicherheit betrifft: den Tod. Es polarisiert auch, weil es das Fundament unserer Gesellschaft berührt in der Sichtweise des Lebens und der Vergemeinschaftung auf der einen und Selbstbestimmung und Autonomie auf der anderen Seite. Es hat mit Hoffnung zu tun und es hat eine existentielle Tiefendimension durch die unterschiedlichen Sichtweisen eines „Danach“. Woran glaube ich (nicht)? Es hat auch mit Würde zu tun. Der Begriff der Würde wird von beiden Seiten in der Argumentation benutzt, allerdings mit unterschiedlichen Inhalten. Weil Vieldeutigkeiten für Verwirrung sorgen und gerade weil das Thema so polarisiert, ist es wichtig, im Dialog zu sein, Austausch zuzulassen und zu fördern. Die ewige Spannung zwischen dem Bewahren und dem Verändern fordert uns Menschen seit jeher. Bei diesem Thema gehöre ich eindeutig zu den überzeugten Bewahrern, lasse mich aber gerne auf polar geführte Auseinandersetzungen in einer guten Gesprächskultur ein. Auch das ist Teil unserer Haltung.
Quelle: Auszüge aus dem Interview erschienen am 30. November im WEEKEND-Magazin