Essen und Trinken – mehr als reine Nahrungsaufnahme

„Sterbende essen und trinken nichts oder sehr wenig, weil sich ihr Stoffwechsel reduziert hat und sie die Nahrung oft gar nicht (mehr) aufnehmen können,“ sagt Christine Haas-Schranzhofer, Pflegedirektorin der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft.

Es ist ein wunderschöner Tag im Oktober 2022. Frau J. sitzt allein am Mittagstisch im Wohnbereich der Hospiz- und Palliativstation und stochert in ihrem Essen herum. Ihr Blick ist traurig und sie wirkt sehr müde. Ich setze ich mich mit meinem Teller mit Erdbeerknödeln neben sie. Gleich darauf kommen noch andere Patient*innen und einige Kolleg*innen dazu, und schon sind alle Plätze besetzt. Es beginnt ein Gespräch über das prachtvolle Herbstwetter, an dem sich auch Frau J. rege beteiligt. Nur ihr Reisfleisch bleibt weiterhin unberührt. Ich frage sie, ob sie lieber etwas anderes möchte und serviere ihr eine Kostprobe der Knödel. Drei Bissen isst sie mit Genuss, der Rest bleibt übrig. Frau J. meint daraufhin: „Wegen Ihnen hab ich jetzt etwas Ungesundes gegessen und auch noch ein Restl zum Wegschmeißen gelassen.“ Am Tisch entwickelt sich eine Diskussion rund um gesunde Ernährung und Nachhaltigkeit. Die Meinungen gehen von „Low Carb“ bis „Vegetarisch“ und von „immer-wieder-eine-Kleinigkeit“ bis zu „16:8“.

Ich melde mich ebenfalls zu Wort und sage: „Jedem das Seine! Ich denke, dass jeder Mensch selbst spürt, was ihm gerade guttut und was nicht. Das ist individuell verschieden und auch von der Lebenssituation abhängig – im Moment ist mir jedenfalls die Hauptsache, es schmeckt!“ Als Frau J. das hört, lächelt sie und bittet mich um ein Gespräch in ihrem Zimmer.

Zusammen schmeckt es besser

Unter vier Augen fragt sie mich, wie ich das mit der „Lebenssituation“ gemeint habe und was sie tun kann, weil ihr einfach nichts schmeckt. Sie sagt: „Es ist schon besser, wenn man nicht alleine beim Essen ist. Trotzdem muss ich mich zu jedem Bissen zwingen.“ Mit ihren Erläuterungen spricht Frau J. mehrere Dimensionen an, die mit Essen und Trinken in Verbindung stehen: In fast allen Kulturen der Welt wird gemeinsames Essen und Trinken sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich gerne zelebriert und ist nicht umsonst Bestandteil vieler Feste und Feiern. Miteinander zu speisen, bedeutet viel mehr als bloße Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme. Gemeinsam zu essen und zu trinken verbindet uns Menschen und tut auch unserer Seele gut.

„Liebe geht durch den Magen“

Essen und Trinken sind menschliche Grundbedürfnisse. Sie zu erfüllen, ist uns ein Anliegen nicht nur für uns selbst, wir möchten auch unsere Lieben darin unterstützen. Jemandem das Frühstück ans Bett zu bringen, sie oder ihn mit einer Leibspeise zu verwöhnen, sind Zeichen von Fürsorge und Zuwendung.

Essen und Trinken bedeuten Leben: Idealerweise führen wir unserem Körper nicht nur ausreichend Kalorien, sondern möglichst gesunde, vitamin- und ballaststoffreiche Nahrung und Flüssigkeit zu. Wie und in welcher Form wir das tun und welche Bedeutung wir dem beimessen, ist individuell sehr verschieden. Selbst Ernährungswissenschaftler sind sich darin nicht einig. Fakt ist jedoch, dass die in der Nahrung enthaltenen Kohlehydrate, Fette und Proteine vom Körper zu ATP (Adenosintriphosphat) umgebaut wird, das dann den Mitochondrien jeder einzelnen Zelle zur Verfügung steht. Dieser komplizierte Prozess liefert die für das Leben benötigte Energie. Daher ist es existenzbedrohend, über längere Zeit nichts (mehr) zu essen und zu trinken.


Wir haben Angst zu verhungern und/oder zu verdursten

In ihrem Zimmer stelle ich Frau J. die Frage, was ihrer Meinung nach passiert, wenn sie ab sofort nur mehr jene Speisen und Getränke zu sich nimmt, auf die sie gerade Lust hat. Sie antwortet spontan: „Das wäre ja herrlich!“, und nach einer kleinen Pause: „Aber dann verhungere ich wohl?“ Sie berichtet auch, dass ihr nach dem Essen meistens schlecht ist. Sie spürt, dass ihr das Essen nicht mehr guttut. Behutsam versuche ich ihr zu vermitteln, dass dies ein normaler Prozess bei schwerer Krankheit und ganz speziell am Ende des Lebens ist. Menschen in der Sterbephase sterben nicht, weil sie nichts mehr essen und trinken – es ist genau umgekehrt: Sie essen und trinken nichts oder sehr wenig, weil sich ihr Stoffwechsel reduziert hat und sie die Nahrung oft gar nicht (mehr) aufnehmen können.

Auf die innere Stimme hören

Ganz besonders dann ist es gut und richtig, auf die innere Stimme zu hören. Essen und Trinken nur so viel (oder so wenig), wie gut schmeckt, am besten gemeinsam mit anderen und ohne Rücksicht auf Ernährungsratschläge, auch wenn sie noch so gut gemeint und wissenschaftlich fundiert sind. Sich zu sehr zu zwingen oder Nahrung und Flüssigkeit künstlich über eine Sonde oder als Infusion zuzuführen, kann sogar schaden. Übelkeit, Erbrechen oder Wassereinlagerungen können die Folge sein. Besonders gefürchtet ist Flüssigkeit in der Lunge, denn dies kann zu großer Atemnot führen. Letztlich ist es nicht das Verhungern, sondern die Krankheit, die zum Tod führt.

Auch das Geschmacksempfinden verändert sich

Wie bei allen Sinnen verändert sich im Laufe des Lebens auch der Geschmackssinn. Mit zunehmendem Alter würzen einige Menschen ihre Speisen stärker. Unabhängig davon gibt es jedoch auch pathologische Einflüsse. Bei vielen Patient*innen kann es aufgrund ihrer Erkrankung oder auch durch deren Behandlung (Medikamente, Chemotherapie, Bestrahlung) zu einem veränderten Geschmacksempfinden kommen. Manche Patient*innen berichten, dass alles „seifig“, „salzig“ oder „sauer“ schmeckt. Leider kann dagegen oft nur wenig getan werden. Aber auch das Milieu im Mund spielt eine große Rolle. Ein sehr trockener Mund oder eine belegte Zunge können für solche Missempfindungen ebenso verantwortlich sein. In solchen Fällen kann intensive Mundpflege helfen.

Ausprobieren, was schmeckt und guttut

In jedem Fall lohnt es sich, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren und sich selbst oder seine Lieben nach Lust und Laune mit diversen Köstlichkeiten zu verführen. Nicht nur dann, aber ganz besonders in der letzten Lebenszeit sind appetitlich servierte „kleine Sünden“ sinnvoll. Wenn größere Portionen mehr belasten als guttun, kann auch ein kleiner Happen ein Stückchen Lebensqualität bescheren. Oft geht es „nur“ um den guten Geschmack im Mund, dafür kann auch ein kleiner Bissen sorgen, sogar dann, wenn dieser nicht geschluckt werden kann. Schließlich geht es darum, sich wohl, besser – oder zumindest nicht schlechter – zu fühlen.
Nach unserem Gespräch versichert mir Frau J.: „Es ist zwar schwer zu wissen, dass ich nicht mehr lange leben werde, aber ich bin auch ein bisschen erleichtert. Ich verstehe meinen Körper wieder und werde mich wieder mehr auf mein Gespür verlassen. Darum habe ich mir vorgenommen, nur mehr zu essen, was und wie viel ich will!“

Christine Haas-Schranzhofer, Pflegedirektorin der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft

Jetzt online spenden und eine liebevolle Begleitung schenken! Vielen Dank!

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über unsere Arbeit:
Hier können Sie sich anmelden!

Fotos: Tiroler Hospiz-Gemeinschaft / Gerhard Berger

Schlagworte

Artikel teilen

Jetzt online Spenden & liebevolle Begleitung schenken

Weitere Beiträge dieser Kategorie

Ehrenamt

Mit ehrenamtlichen Tätigkeiten das Hospiz unterstützen.

Zwei Frauen, eine sitzt im Rollstuhl

Kontakt

Leiterin Ehrenamt
Mag. Angelika Heim, MSc
+43 5223 43700 33622
von 08:00 – 15:00 Uhr

Über uns

Die Menschen des Hospiz & den Verein kennenlernen.

Kontakt

Allgemeine Anfragen
+43 5223 43 700 33 600
08:00 – 16:00 Uhr (Mo-Fr)

Akademie

Weitere Kurse ansehen und über Hospizarbeit lernen.

Kontakt

Betreuung & Begleitung

Mehr über die Hospizarbeit und das Angebot erfahren.

Kontakt

Für Betroffene & Angehörige
+43 810 96 98 78
08:00 – 20:00 Uhr (Mo-So)

Allgemeine Anfragen
+43 5223 43 700 33 600
08:00 – 16:00 Uhr (Mo-Fr)