Gastfreundschaft (=Hospitalitas) und Corona – wie passt das zusammen?

„Eine hospizliche Haltung einnehmen heißt für mich, Stellung zu beziehen und den, die oder auch das Fremde potenziell als Freund zu sehen.“ Christine Haas-Schranzhofer, Pflegedirektorin Tiroler Hospiz-Gemeinschaft

Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag Anfang März. Wie jedes Jahr macht mich die Vorfreude auf den Frühling richtiggehend euphorisch. Die Tage sind schon wieder länger, die Vögel zwitschern im Garten und die ersten Blumen öffnen ihre Blüten. Zwei Patientinnen unserer Hospiz- und Palliativstation sitzen gut geschützt auf der Bank vor dem Hospizhaus und genießen die wärmenden Sonnenstrahlen. Im Vorbeigehen winke ich ihnen zu und überlege, wie es ihnen in den nächsten Wochen wohl gehen wird. Für beide ist – ihrem Wunsch entsprechend – die Entlassung nach Hause bereits in die Wege geleitet. „Leicht wird es nicht“, denke ich mir, „es kann aber klappen, weil beide auch daheim gut umsorgt werden.“ Für eine der beiden Damen, Frau S., ist es eine besonders große Herausforderung, denn sie lebt allein und braucht Unterstützung durch einen Pflegedienst. Sie, die ein Leben geführt hat, das nicht immer den Konventionen entsprochen und die bisher alles in der ihr eigenen Art und Weise allein geschafft hat, sie muss fremde Hilfe annehmen und unbekannte Pflegepersonen in ihre Wohnung lassen. Eine neue Situation, der sie mit gemischten Gefühlen entgegensieht. So etwas ist Frau S. nicht gewöhnt, es ist ihr fremd.

Das Fremde stellt mich in Frage

„Fremdes hat immer etwas mit mir zu tun … mein Gewohntes wird hinterfragt und mein innerstes Heimliches wird mir im Außen des Anderen zum Un-Heimlichen und entzieht sich meinem Zugriff. Dieses Fremde im Anderen trägt das Wissen um eine andere Möglichkeit in sich die Welt zu sehen, zu leben, zu denken, zu beurteilen und kann damit zutiefst verunsichern. Es stellt den eigenen Lebensentwurf infrage“, schreibt Thomas Bek.[1] „Fremd ist also auch ein relationaler Begriff. Er beschreibt eine Beziehung zwischen mir und dem anderen.“ Ich verstehe die Gefühle von Frau S. und bewundere ihren Mut, sich dennoch auf die neue Situation einzulassen.

Ein guter Weg mit dem Fremden umzugehen, ist für Andreas Heller die Gastfreundschaft: „Gastfreundschaft ist eine existenziell-moralische, eine humanitäre Haltung, eine schenkende Existenzform des Menschlichen, die über mauernde Selbstverteidigungsinteressen hinwegträgt. Gastfreundschaft ist eine uralte, menschliche, individuelle und kollektive Haltung des Vertrauens, mit dem Fremden umzugehen.“[2]

Gastfreundschaft bedeutet, das Fremde willkommen zu heißen

Was wird aber aus unserer Gastfreundschaft, wenn ein Virus Restaurants und Cafés stilllegt, wir uns alle möglichst wenig und nur mit Abstand begegnen sollen und sich somit auch unsere eigene Gastfreundschaft auf ein Minimum reduzieren soll? Mit Sorge beobachte ich Berichterstattungen über Demonstrationen von Corona-Gegnern, das Wetteifern der reichen Länder um Impfstoff oder die Verteilung der einzelnen Präparate in Österreich (wer kriegt welchen Impfstoff zuerst?). Von den schlimmen Zuständen in Kriegsgebieten, in Flüchtlingslagern oder anderen Tragödien ganz zu schweigen. Es scheint, als hätte das Virus das Potenzial, uns mehr voneinander zu trennen und gegeneinander aufzuhetzen, anstatt unsere Fähigkeit zur Solidarität und zum Zusammenhalt voranzutreiben und es dadurch gemeinsam zu überwinden.

Die neue Situation für Frau S. verlangt von ihr eine gastfreundliche Haltung, um das Fremde willkommen zu heißen und die Bereitschaft, Hilfe von Menschen anzunehmen, die sich um sie sorgen. Dadurch kann es gelingen, dass sie ihre letzte kostbare Lebenszeit mit einer möglichst guten Lebensqualität so selbstbestimmt und autonom wie möglich in ihren eigenen vier Wänden verbringen kann.

Am Beispiel dieser Patientin lässt sich in meiner Gedankenreise Gastfreundschaft auch auf uns alle und auf diese Pandemie übertragen. Gastfreundschaft ist die Uridee der Hospizbewegung. „Im Konzept des Hospizlichen steckt ja die Einladung und das Angebot der Gastfreundschaft (hospitalitas, lat.) auf dem letzten Weg des Lebens“, sagt Andreas Heller. „Gast-Freundschaft hat womöglich immer zu tun mit dem Bestreben, die Enge unseres Denkens und Fühlens auszuweiten, uns zu riskieren, hoffnungslos hoffnungsvoll und von Angst befreit zu leben, indem wir Vertrauen aufbringen.“[3]

Eine hospizliche Haltung einnehmen heißt für mich daher, Stellung zu beziehen und den, die oder auch das Fremde potenziell als Freund zu sehen, im Vertrauen zueinander, im Vertrauen auf ein gutes Miteinander und im Vertrauen darauf, es grundsätzlich immer gut miteinander zu meinen. Nach dem Motto „Gemeinsam ist man zusammener“ ist es von großer Bedeutung, sich Zeit füreinander zu nehmen und einander wirklich zuzuhören. Gerade weil die direkten Begegnungen (noch) reduziert sind, sind Begegnungen im übertragenen Sinn durch das Schaffen kreativer anderer Wege des Miteinanders sehr sinnvoll. Auch wenn uns Quarantäne und Abstandsregeln einiges an Fantasie für ein spürbares Füreinander-da-Sein abverlangen, ist Gastfreundschaft im Sinne einer hospizlichen Haltung trotz – oder gerade wegen – Corona aus meiner Sicht besonders wichtig.

Christine Haas-Schranzhofer, Pflegedirektorin

[1] Thomas Bek, Das Fremde ist das Eigene im Anderen, in: Praxis Palliative Care 46/2020, S. 40 ff.

[2] Andreas Heller, Gast-Freundschaft als Perspektive für eine sorgende Gesellschaft, in: Praxis Palliative Care 43/2019, S. 8 ff.

[3] Andreas Heller: Gast-Freundschaft als Perspektive für eine sorgende Gesellschaft. In Praxis Palliative Care 43/2019 S. 8 ff

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