Was bedeutet für dich das Bild der sich haltenden Hände im Hospiz?
Christian Sint: Ganz spontan kommt mir da die Geschichte zweier Frauen in den Sinn. Die beiden lagen längere Zeit nebeneinander. Die jüngere litt an einem Lungenleiden und hatte oft Probleme mit dem Atmen. Als sie wieder einmal nach Luft rang, nahm die ältere, demente Dame die Hand der jüngeren. Ohne Worte. Sie hat einfach ihre Hand gehalten. Das hat die jüngere Frau so gerührt, dass ihr Tränen über die Wange liefen.
Ich beobachte immer wieder, dass sich jeder Mensch, wie auch immer er tickt, nach einer anderen Hand sehnt. Vor allem, wenn die Menschen spüren, dass sie bald sterben werden, zeigen sie das auch stärker. Die Nähe des Todes bricht oft die anerzogene Kontrolle auf, wie man sich denn verhalten soll. Es kommen zutiefst kindliche Züge durch. Die Sehnsucht, gehalten zu werden oder die Nähe einer anderen Person zu spüren, gehört da auf jeden Fall dazu. Das trifft natürlich nicht bei jedem Menschen zu. Aber man merkt schon, dass die meisten die Hand nicht wegziehen, wenn man sie sanft umschließt. Was mich immer wieder überrascht: auch hartgesottene Männer nicht, bei denen man das vielleicht vermuten würde.“
Warum ist der Begriff – Gemeinschaft Hände – so zentral in der Hospizarbeit?
Christian Sint: Ein Patient hat mir einmal gesagt, dass es ihm am Hospiz so gut gefällt, weil „es so gesellschaftlich zu geht“. Er war in einigen Vereinen engagiert. Bedingt durch seine Krebserkrankung fühlte er sich mehr und mehr vom gesellschaftlichen Leben isoliert. Auf der Station gibt es neben Zeiten der Ruhe und des Rückzugs immer wieder Musik, ein Zusammensitzen, Feiern. Die Menschen erleben ein Gemeinschaftsgefühl, und zwar in einer Gemeinschaft, die ähnliche Schicksale teilen. Dabei geben sich die Patientinnen und Patienten untereinander selbst viel Halt und Trost. Sie fragen nach einander und kümmern sich – soweit es geht – um einander.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist sicher auch, dass wir auf der Station durch eine wohnliche Atmopshäre und unseren wöchentlichen Rhythmus so etwas wie „Alltag“ oder Normalität erlebbar machen. Das ist in einer Ausnahmesituation, in der sich alle befinden, sehr wichtig. Auch für die Angehörigen. Es gibt zum Beispiel jeden Freitag um 15.00 Uhr eine Kaffeerunde, frisches Bauernbrot und Musik. Da geht es mitunter sehr lustig zu. Die alten Lieder wecken schöne Erinnerungen bei allen und lockern die Atmosphäre auf der Station auf. Aber auch der Gottesdienst ist im Alltag verwoben und erhält einen ganz neuen Auftrag: Die Gemeinschaft und Solidarität, das einander Tragen und Beistehen in den Mittelpunkt zu stellen.“
Warum sehnt sich jeder Mensch und gerade der Sterbende nach dem Gehalten werden?
Christian Sint: Der Tod ist für mich letztlich die Geburt in ein neues Leben hinein. Das sieht man zum Beispiel daran, wie sterbende Menschen im Bett liegen. Sie verschließen sich vor der Welt. Ihre Haltung ähnelt der von Embryos im Mutterleib. Aber anders als bei der Geburt am Lebensanfang, bei der man zu zweit war, bei der die Mama dabei war, ist der Tod ein Weg, den man alleine gehen muss. Vielleicht kommt daher die Sehnsucht, nicht ganz allein zu sein, sondern noch jemanden Zweiten zu spüren.