Was tun wenn ein demenzkranker und außerdem leicht gehbehinderter Bewohner eines Pflegeheims „sich einbildet“, jetzt sofort alleine in die Stadt fahren zu wollen?
Mit Trenchcoat und Stock bereit für neue Abenteuer
Den Trenchcoat angezogen, den Stock in der Hand hält den Mann nichts davon ab, jetzt sofort alleine in die Stadt zu fahren, um eine Uhr einzukaufen. Auch nicht gutes Zureden, dass ihn später eine ehrenamtliche Mitarbeiterin begleiten könnte, kann ihn davon überzeugen, später zu gehen. Im Gegenteil. Der Mann wird wütend, dass man ihn nicht gehen lassen will.
Angelika Feichtner, Hospizpionierin in Tirol, war bis Ende 2011 Pflegedienstleiterin im Sozialen Kompetenzzentrum Rum. Sie hat die oben beschriebene Situation, die beispielhaft für unzählige Selbstbestimmungswünsche und -konflikte im Alters- oder Pflegeheim steht, selbst miterlebt.
Ein Pflegeheim ist keine geschlossene Anstalt
„Dieser Mann stand nicht unter Sachwalterschaft, das heißt, er kann frei über sich entscheiden und wir, also das Pflegeheim, sind keine geschlossene Anstalt“, erzählt Angelika Feichtner. „Für mich war klar, dass wir diesen Mann gehen lassen müssen und ihn gar nicht festhalten dürfen. Was wir zu seiner und auch unserer Sicherheit getan haben war, dass wir ihm in alle seine Taschen Visitenkarten von unserem Heim gesteckt haben.“
Nach drei Stunden kam ein Anruf einer Frau, die wissen wollte, was sie mit dem „leicht verwirrten Herrn“ tun sollte. Ein Taxi wurde gerufen und der Mann kam am frühen Abend erhobenen Hauptes und als stolzer Besitzer einer neuen Uhr wieder gut im Heim an.
70 Pflegebedürftige auf zwei Pflegkräfte
Der streng geregelte Tagesablauf eines Alten- oder Pflegeheims, zu wenig Pflege- und Betreuungspersonal und starre Strukturen machen es vor allem pflegebedürftigen BewohnerInnen extrem schwer, im Heim einigermaßen selbstbestimmt leben zu können.
„Dabei mangelt es von Seiten des Personals absolut nicht an der Bereitschaft, auf die Bedürfnisse der BewohnerInnen einzugehen. Wie sollen aber zwei Pflegekräfte während der Nacht 70 BewohnerInnen individuell gerecht werden?“, fragt sich Angelika Feichtner. Dennoch ist sie davon überzeugt, dass es auch in der Enge eines Pflegeheims möglich ist, dem Menschen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung einzuräumen.
Wenn der Knopf im falschen Knopfloch landet
„Nur selten sind es die großen, existenziellen Fragen. Im Heimalltag geht es doch oft darum, wann stehe ich auf, was will ich essen, was ziehe ich an und darf es sein, dass meine Bluse ‚falsch’ zugeknöpft ist?“ Für Angelika Feichtner ist vieles eine Frage der Haltung gegenüber dem alten Menschen in unserer Gesellschaft.
Wie viel gestehe ICH ihm an Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zu?
Halte ICH es aus, dass die Mutter sich die Bluse noch selber zuknöpfen will, dafür aber der Knopf im falschen Knopfl och landet?
Für Angelika Feichtner geht es im Alltag darum, wie viel Würde, Respekt und Selbstbestimmung ich einem Menschen geben kann, wenn ich ihm diese „kleinen“ Eigenheiten lasse und nicht nehme.