Ein Tag im Dezember 2009: Ich besuche Herrn S. (60) in seinem Zimmer auf der Hospiz- und Palliativstation in Innsbruck. Ich stelle mich als Seelsorger vor. Gleich und forsch gibt er mir zu verstehen: „Ich brauch koan Pfoarer, koa Kirchn, koanen frommen Kirchenweiber. I hob mei Marterele. Da geh i hin, wenns mi daloadet“. „Marterle?“, frage ich nach, „ist das nicht ein Ort in Kärnten?“ und tappe mit dieser Frage in ein weiteres Fettnäpfchen. „Nein, Pfoara, du hast wirklich keine Ahnung. Des Marterle, des isch a Wegkreuz zwischen Solsteinhaus und der Magdeburger Hütte.“
Das Marterle – ein Wegkreuz – als Schlüsselwort
Eine unglückliche, erste Begegnung. Ich ließ mich nicht entmutigen und suchte Herrn S. erneut auf. Das besagte Marterle wurde zum Schlüsselwort oder, anderes gesagt, zum Aufhänger für unsere weiteren Begegnungen. Ich bat Herrn S., mir von diesem Marterle zu erzählen. Er berichtete mir von seinem Vater, der, vom Krieg verletzt und verwundet, von seinen Kameraden zu diesem Marterle hingetragen worden war. Tage später zeigte er mir ein Foto, das ihn und seine Schwester zusammen mit seinen Eltern vor diesem Marterle zeigte. „Wenn I amol stirbt“, sagte er mir ein anderes Mal, „brauchst nicht für mich zu beten. Da brauchst nur hin zu gehen zum Marterle und an mich denken.“
Einkehr in seinem Zimmer
Herr S. hatte Lungenkrebs und brauchte ständig Sauerstoff. Jeden Abend, bevor ich die Station verließ, kehrte ich in seinem Zimmer nochmals ein. Er lud mich auf einen „Klopfer“ ein, mit ihm ein kleines Fläschen „Wodka Feige“ zu trinken. Dabei ließen wir den jeweiligen Tag revu passieren, erzählten, redeten, lachten.
Sein Zustand verschlechterte sich. Es war ein Freitag. Die für ihn zuständige Schwester meinte, sie habe mit Herrn S. über seinen kritischen Zustand, das bevorstehende Sterben gesprochen. Ich solle ihn heute früher, also vor dem Abend aufsuchen und ihn fragen, ob er etwas brauche oder ob er mir etwas sagen wolle. Herr S. rang zu diesem Zeitpunkt schon sehr nach Luft, schlief immer wieder weg. In einem wachen Moment gab er mir zu verstehen, dass er nichts von mir brauche. Ich hielt seine Hand, sagte ihm, dass ich in Gedanken nun zum Marterle ginge und fest an ihn dächte. Er schlief immer wieder weg, wachte auf. Irgendwann rutschte „Mama“ über seine Lippen. In der darauf folgenden Nacht starb er.
Das Geheimnis des Lebens berühren
„Das Geheimnis des Lebens berühren“ ist der Titel eines Buches von Erhard Weiher. Was immer man unter „Geheimnis“ versteht, für Herrn S. war gewiss das Marterle etwas, dass das „Geheimnis seines Lebens“ berührte, ein Inbegriff von Heimat, vertrauter Kindheit, ein Ort der Geborgenheit. Dieses Marterle war ihm heilig. Es verband ihn mit dem Heiligen. Und dieses Marterle, zu dem Herr S. in Gedanken immer wieder hin pilgerte, ich wage es zu schreiben, trug ihn durch die Krankheit, ins Sterben hinein.
Christian Sint, Seelsorger auf der Hospiz- und Palliativstation Innsbruck
Weiterführende Links: