Bei dieser Haltung handelt es sich weder um eine Euthanasieanleitung noch um eine Aufforderung zum Selbstmord! Es ist eine in Worte gefasste Haltung, unser Leben nicht nur zu betrachten, sondern anzuerkennen und anzunehmen.
In der Betrachtung unseres Lebens sind wir oft verleitet unser momentanes Leben zu vergleichen.
Wir nehmen unser derzeitiges Leben als Referenzpunkt und begeben uns in die Trauer /Erleichterung über Vergangenes/Überstandenes oder in eine Welt der Wünsche und Erwartungen von Zukünftigem.
Ungelebtes und aufgeschobenes Leben
Und dabei hätten wir in der Begleitung von schwerkranken Menschen so oft die Gelegenheit der Beobachtung von ungelebtem und aufgeschobenem Leben (der 60 jährige Tumorpatient, der sein Leben auf die Pension aufsparen wollte, …), oder aus dem Akzeptieren eines allzu kurzen Therapieerfolges („… aber in meinem letzten Dienst habe ich Fr. Mair ja noch mobilisieren können?“) zu lernen.
Voraussetzung um sich das Leben nehmen zu können, ist wohl die primäre Annahme eigener Lebensanteile.
Trennung zwischen Sterbenden und Lebenden
Manchmal habe ich in Besprechungen über Patienten den Eindruck als ob es eine Trennung, eine Seite der Sterbenden und eine der Lebenden, geben würde. Das Sterben ist jedoch so wie die Geburt ein ganz konkreter und unmittelbarer Lebensanteil/Lebensbestandteil. Eigentlich bräuchten wir uns darum nicht zu sorgen, da wir diesen Bestandteil ja seit Beginn in uns mittragen. Das wiederum würde aber auch bedeuten, dass wir uns alle (Lebende und Sterbende) immer noch in diesem, uns ureigenen Lebensstrom (ver-) be-finden.
In weiterer Folge bedeutet daher, sich das Leben zu nehmen, es sich auch in der Begleitung von kranken Menschen nehmen zu können. Ich beobachte oft Situationen wo Patienten mit Freude wahrnehmen, wenn auch Pflegende auf ihre Bedürfnisse hinweisen und dadurch vermittelt bekommen, dass auch Betreuende die Fähigkeit haben auf sich zu schauen – sich das Leben zu nehmen.
Grenzenloses Kümmern und Sorgen
Gerade in emotional und gesellschaftlich so hoch wertgeschätzten Bereichen wie der Hospizarbeit, besteht leicht Gefahr, dass das grenzenlose Kümmern und Sorgen um die Lebensqualität der Patienten zum Ersatz der eigenen ungelebten Lebensanteile wird. Eigene Lebensanteile nicht zu leben, sie zurückzuweisen, nützt jedoch einem anderem Menschen, dem es derzeit nicht so gut geht, nichts.
Wir werden oft aufgefordert den Tag so zu leben als ob es unser letzter wäre. Ich tendiere mehr zu der Einstellung, den Tag so zu leben, als ob es der erste Tag für den Rest meines Lebens wäre.
Sich das Leben zu nehmen, als ob es das erste Mal wäre.
Das Leben zu nehmen ist das Standbein für die Haltung des Bei-Leid (darüber im Februar).
Und so wünsche ich allen LeserInnen im neuen Jahr, den Geist sich das Leben zu nehmen und es sich in Fülle zu nehmen. Um dadurch „Lebens-Mittel“ zu sein für andere.
Norbert Schletterer