Stolperengel

„Agentur für Engel“ steht auf dem Schild. Schlicht und pragmatisch hat es jemand mit zwei Schrauben an die Wand gebracht. Im Treppenhaus riecht es nach scharfem Putzmittel. Die Agentur befindet sich im dritten Stock.

„Guten Tag“, sage ich zu der Person hinter dem Verkaufstisch. Unwillkürlich frage ich mich, ob das jetzt auch schon ein Engel ist. „Das fragen sich alle“, schnarrt ihre Stimme. „Was wollen Sie denn?“

„Einen Engel“, sage ich schüchtern, weil mir der Wunsch auf einmal verwegen vorkommt und ich gar nicht weiß, ob ich mir das leisten kann. Ich habe ja keine Ahnung, wie so etwas abläuft. „Schutzengel sind aus, die wollen alle“, entgegnet die Stimme. „Der Verkündigungsengel ist auf Urlaub, Saisonarbeit, Sie verstehen. Der Drachenkämpfer ist im frühzeitigen Ruhestand mangels Nachfrage. Wo gibt es heute schon noch Drachen? Die Paradiesengel sind nicht abkömmlich. Rachengel bieten wir ungern an, die machen eine schlechte Presse. Und die Friedensengel haben Burnout. Einen Stolperengel können Sie haben!“

„Bitte was? Was soll ich denn damit?“

Sie sieht mich streng an. „Die Frage ist nicht, was Sie damit sollen, sondern was der Engel von Ihnen will.“

Langsam schwant mir, warum diese Agentur nicht bekannter ist. „Also was ist? Nehmen Sie ihn?“

Ich nicke eilig, weil ich Angst habe, dass auch dieser Engel gleich vergriffen sein könnte. „Gut“, sagt die Person hinter dem Verkaufstisch und schreibt weiter in ihr Buch. Nichts passiert. Ich schaue mich suchend um. „Und?“, frage ich schließlich. „Wo ist mein Engel?“

„Er wird Sie finden.“ Ihr Kopf senkt sich wieder und mir bleibt nichts Anderes übrig, als zu gehen.

Seit diesem Tag schaue ich mich öfter verstohlen um. Irgendwo ist er und bringt mich ins Wanken.

nach Susanne Niemeyer

Der „Stolperengel“ – von dem hier die Rede ist – kommt also eher plötzlich so daher. Er findet eine/n. Er überrascht, irritiert, bringt eine/n ins Wanken, ins Stolpern. Er stellt Leben, Pläne, Sichtweisen in Frage. Unangenehm. Angenehm.

Von einem Engel regelrecht überrascht wurde auch Maria damals in Nazareth. Der Engel Gabriel – von Gott gesandt – sagte ihr: „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem soll du den Namen Jesus geben.“ (Lk 1,31) Diese Verheißung stellte ihr Leben auf den Kopf. Aber Maria´s „Ja“ eröffnet eine heilsame Zukunft, damals wie heute.

Ich wünsche dir einen Engel, der dich findet, einen, der dich überrascht. Er möge dir helfen zu sehen, wofür es sich zu leben lohnt, was heute, morgen zu tun ist. Er ermutige dich aufzubrechen, aus der Enge in die Weite, aus der Angst ins Vertrauen … auch stolpernd.

Eine Anregung für den Tag:

Halte inne und geh in diesen „Feiertag“ hinein. „Lass dich überraschen“.

Adventimpuls, 8.12.2020

Christian Sint

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