Auf unserer Hospizstation war eine junge Mutter verstorben. Als die Familie mit drei Kindern kam, um sich von der Mutter zu verabschieden, wusste ich selbst nicht, was ich sagen oder beten sollte. Weitergeholfen hat mir dann die achtjährige Karolina, die jüngste Tochter.
Karolina wollte zunächst nicht an das Bett ihrer verstorbenen Mutter. Was machte sie? Sie malte auf einem weißen Blatt zunächst einen blauen Himmel, dann den Körper ihrer Mutter mit großen Ohren und einem runden, lachenden Mund. Die Mutter hatte ihre Hände weit ausgestreckt. Und dann hatte Karolina – was mich am meisten beeindruckte – ihrer Mutter mit gelber Farbe an beiden Seiten unter den Armen Flügel gemalt. Die Mutter glich einem, nein, sie war nun ein Engel, lachend und mit einem gelben Schein um den Kopf.
Karolina tat mir und, wie ich glaube, auch den umstehenden Erwachsenen in dieser schweren, bedrückenden Situation eine Tür auf. Mit ihrer Zeichnung sagte sie uns: Meine Mutter ist nun ein Engel. Sie lebt schon in einer anderen Wirklichkeit. Religiöse Menschen würden sagen: Sie ist bei Gott und bei allen, die schon gestorben sind.
Ich selbst bin bei den gelben Flügeln hängen geblieben. Denn was Karolina für ihre Mutter malte, gilt nicht nur an der Grenze des Todes. Es gilt auch an den vielen Grenzen unseres Lebens: Es wachsen uns manchmal Flügel, Flügel, die uns weitertragen. Der Abschied von einem nahen lieben Menschen ist auch eine solche Grenze. Trauernde Menschen erzählen mir oft, was sie durchmachen, dass sie einfach nicht weiterkommen. Sie erzählen aber auch, wie sie – den Schmerz durchgehend – langsam wieder aufrecht gehen und sich dem Leben zuwenden. Es gibt Kräfte über uns, in uns, die uns dazu verhelfen.
Ja, wir dürfen vertrauen, dass unserer Leben – auch wenn es drunter und drüber geht – letztlich in einer guten Hand geborgen ist. Und wir dürfen vertrauen, dass uns hin und wieder Flügel wachsen, Flügel, die uns weitertragen. Das sagt uns die Zeichnung von Karolina. Danke Karolina für dein ermutigendes Bild.
Christian Sint, Seelsorger auf der Hospiz- und Palliativstation
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