Wahrnehmen und für Wahr nehmen

„Wir Menschen sind verschieden. Krankheiten auch. Scheinbar gleiche Krankheiten wirken sich oft sehr unterschiedlich aus.“ Christine Haas-Schranzhofer, Pflegedirektorin Tiroler Hospiz-Gemeinschaft

Vor vielen Jahren, ich war damals noch Nachtschwester auf einer internistischen Station, betreute ich zwei gleichaltrige Frauen. Beide, Frau A. und Frau K., waren an Multipler Sklerose erkrankt. Die Diagnose ihrer Krankheit war, aus rein körperlicher und medizinischer Sicht, in einer sehr ähnlichen Phase. Durch mein frisch erlerntes medizinisches Wissen aus der Krankenpflegeschule dachte ich, dass beide Patientinnen nun wohl in einem ähnlichen Zustand seien.

Doch schon beim Betreten des Zimmers wurde mir klar, dass die beiden in sehr unterschiedlicher Verfassung waren. Letztlich musste Frau A. nach dem Krankenhausaufenthalt als intensiv pflegebedürftige, bettlägerige Patientin in ein Pflegeheim transferiert werden, in dem sie nach relativ kurzer Zeit starb. Frau K. hingegen konnte nach Hause entlassen werden. Sie war sogar in der Lage, ihre Kinder und den Haushalt zu versorgen und brauchte bis auf die Unterstützung ihrer Familie noch für viele Jahre keine Hilfe von außen.

Gleiche Diagnose – Unterschiedlicher Verlauf

Die unterschiedlichen Schicksale dieser beiden Patientinnen waren für mich schon damals ein besonders plakatives Beispiel dafür, wie wichtig eine ganzheitliche Sichtweise ist. Körper, Geist und Seele bilden eine Einheit und beeinflussen sich wechselseitig. Dazu kommen das soziale Umfeld, Umwelteinflüsse und viele andere Faktoren, die dazu führen können, dass sich die gleiche Krankheit bei jedem Menschen anders auswirken kann. Viele dieser Zusammenhänge sind mittlerweile durch moderne neurowissenschaftliche Forschung erklärbar.

Placeboeffekt ist bestätigt

Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie und anderer Methoden kann die Aktivität des Gehirns direkt und live beobachtet werden. So wurde zum Beispiel in einer Studie zur Schmerztherapie der Placeboeffekt bestätigt. Hier konnte eine erhöhte Aktivität in drei Hirnregionen (im rostralen anterioren Cingulum, in der Amygdala und im periaquäduktalen Grau) beobachtet werden . Diese Teile des Gehirns sind an der Schmerzverarbeitung beteiligt, sie hemmen die Schmerzwahrnehmung durch das Ausschütten von Endorphinen, das sind morphiumartige Substanzen, die der Körper selbst produziert. Diese Placebowirkung konnte durch Opiumantagonisten (= Gegenmittel) sogar wieder aufgehoben werden, obwohl keine opiumhaltigen Medikamente von außen zugeführt wurden.

Ehrlichkeit als Basis für Vertrauen

Auch wenn ich die Aussagekraft derartiger Studien sehr schätze, als Pflegefachkraft möchte ich Patient*innen ohne deren Wissen keine Placebos verabreichen. Denn mir ist wichtig, mit ihnen in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung zu sein. Ehrlichkeit, Respekt und Authentizität sind aus meiner Sicht die Basis dafür. So kam es, dass ich einer Patientin statt der von ihr verlangten Novalgin-Tropfen ein Glas mit Wasser reichte und ihr Folgendes erklärte: „Ich kann Ihnen nicht schon wieder die Schmerztropfen geben, weil Sie erst vor einer Stunde eine Dosis eingenommen haben. Aber hier habe ich das ‚Tropfenglas‘ mit reinem Wasser, probieren Sie das doch einmal, das hilft vielleicht auch.“ Und siehe da – es half! Es half nicht nur einmal, sondern immer wieder. Auch dieser sogenannte „offene Umgang mit Placebos“ wird mittlerweile wissenschaftlich erforscht und es gibt schon einige Belege für die reale Wirksamkeit.

Gedanken und Gefühle beeinflussen den Krankheitsverlauf

Gedanken und Gefühle beziehungsweise die ihnen zugrunde liegende Erwartungshaltung regulieren aber nicht nur die Wirkung von Medikamenten, sondern tragen wesentlich zur Genesung und zu unserem Wohlbefinden bei. Für uns Menschen als soziale Wesen sind daher Zuwendung und soziale Interaktion besonders bedeutsam. Aber auch viele andere Faktoren wie Rituale, Tanz- un Klangtherapien, autogenes Training, Hypnose oder andere in der westlichen Welt oft nicht anerkannte Heilmethoden können entsprechend den persönlichen Wünschen und Vorstellungen helfen. Bis zu einem gewissen Grad können wir daher den Verlauf einer Krankheit – oder wie sich diese Krankheit auf uns auswirkt – für uns selbst und für andere mit beeinflussen.

Positiv denken ≠ Schönreden

Leider hat unser Gehirn generell die Tendenz, sich auf Gefahren und Probleme des Lebens zu konzentrieren. Wenn wir unseren Gedanken freien Lauf lassen, schieben sich Sorgen und Ängste daher oft in den Vordergrund. Negative Glaubenssätze verselbstständigen sich scheinbar. Wir können aber üben, unsere Gedanken immer wieder zu lenken und zu „affirmieren“. Affirmationen sind bewusst formulierte positive Gedanken, die helfen sollen, nicht nur das, was wir fühlen und tun, sondern auch biologische und chemische Prozesse unseres Körpers zu steuern. So können wir die Kraft der positiven Gedanken nutzen. Das ist nicht immer möglich, denn manche Situationen und Erlebnisse sind schier unerträglich und lassen sich auch nicht „schönreden“.

Ich freue mich, wenn’s regnet

Glücklich sind diejenigen, die es wie Karl Valentin halten können, der sagte: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“ Wir alle sind von unserem bisherigen Leben und unseren Erfahrungen seit frühester Kindheit geprägt.

Entsprechend ist der Umgang mit Krisen, Problemen und Krankheit individuell sehr verschieden. Diese Einzigartigkeit zeigt sich in den intensiven Phasen des Lebens oft besonders deutlich, so auch am Ende des Lebens. Egal ob positiv, kämpferisch, hoffnungsvoll, vertrauensvoll, negativ, pessimistisch oder ergeben, für mich persönlich waren und sind viele Patient*innen große Vorbilder.

Ich bin dankbar, sie ein Stück ihres Weges in sehr intimen Situationen ihres Lebens in ihrem So-Sein mit ihren individuell sehr unterschiedlichen Bedürfnissen begleiten zu dürfen. Ich freue mich, diese Unterschiede wahrnehmen und in der Folge auch für „wahr“ nehmen zu können, weil nicht nur wir als Individuen, sondern auch unsere Krankheiten sehr verschieden voneinander sind. Darum geht’s – auch.

Christine Haas-Schranzhofer, Pflegirektorin

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