Wie wird die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert?
Stefanie Gläser: „ALS ist eine Erkrankung, die relativ schwierig zu diagnostizieren ist. Die PatientIn geht meistens zum Arzt, wenn sie ein erstes Symptom hat, zum Beispiel, dass der/die Betroffene zum Beispiel den Fuß nicht mehr gut bewegen oder die Hand nicht mehr gut einsetzen kann oder dass das Sprechen und Schlucken schwierig wird.
Diese Symptome gibt es auch bei vielen anderen Erkrankungen. Für die Diagnose ALS gibt es bisher keinen einfachen eindeutigen Test und so dauert es manchmal bis zu einem Jahr bis feststeht, dass es sich um Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) handelt – und so vergeht oft viel Zeit, bevor eine Betreuung möglich ist. Wenn man weiß, dass die Patienten im Schnitt 3-5 Jahre nach der Diagnose versterben, ist es besonders wichtig, dass frühzeitig mit der Therapie begonnen wird.
Bei vielen Erkrankungen beginnt man erst dann mit einer Therapie, wenn ein Problem auftritt. Bei ALS sollte hingegen so früh wie möglich mit der Therapie und mit vorausschauender Planung begonnen werden, auch wenn noch keine größeren Probleme aufgetreten sind. Wenn frühzeitig mit Logopädie,und Physiotherapie begonnen wird, kann in vielen Fällen eine Verschlechterung herausgezögert werden.“
Wie kann trotz dieser schwerwiegenden Diagnose und der ständig zunehmenden Einschränkungen die Lebensqualität bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) möglichst lange erhalten bleiben?
Stefanie Gläser: „Das Netzwerk ALS der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft ist entstanden, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass die PatientInnen mit ihrer Diagnose oft sehr alleine sind und der Erstkontakt zum Hospiz erst bei Überforderung zustande gekommen ist. In St. Gallen in der Schweiz werden seit mehreren Jahren Betroffene nach der Diagnosestellung in ein Netzwerk mit Ärzten, Therapeuten, Krankenschwestern/Pflegern, Sozialarbeitern und Seelsorgern aufgenommen, und man hat festgestellt dass die Lebensdauer sogar verlängert und auch die Lebensqualität verbessert werden kann. Auch bei uns gibt es jetzt so ein Netzwerk, das dasselbe Ziel verfolgt.
Was braucht die PatientIn? Er/Sie braucht eigentlich ein auf sie/ihn ganz individuell angepasstes Unterstützungs- und Therapieprogramm. Was Lebensqualität ist, lässt sich schwer verallgemeinern. Wesentlich ist, dass die PatientIn genau die Therapieangebote, technischen Hilfsmittel und sozialen Unterstützungsangebote bekommt, die er/sie braucht.
Auf der körperlichen Ebene, die mir als Physiotherapeutin besonders wichtig ist, sollte mit der Therapie bereits begonnen werden, bevor die Muskeln stark geschädigt sind. Der Funktionserhalt der noch intakten Muskulatur steht dabei im Vordergrund. In vielen Fällen kann dadurch die körperliche Verschlechterung hinausgezögert und die Lebensqualität verbessert bzw. erhalten werden.
Bei einer Zunahme der körperlichen Einschränkungen hilft unsere Sozialarbeiterin den Betroffenen und ihren Angehörigen bei der Beantragung von Pflegegeld und ähnlichen Unterstützungsangeboten. Ergotherapie hilft bei Anpassungen in der Wohnung und mit Hilfsmitteln, um das tägliche Leben so lange wie möglich selbständig meistern zu können. Logopädie hilft bei Schluck- und Sprachstörungen, indem die Muskulatur, die fürs Sprechen und Schlucken gebraucht wird, möglichst sinnvoll eingesetzt wird.
Auf der psychischen Ebene versuchen wir die PatientIn dort aufzufangen, wo er/sie gerade steht. Wir Fachleute müssen darauf achten, den/die BetroffeneN nicht mit zu viel Information zu überfordern. Vielmehr geht es darum, ihn/sie und sein/ihr Umfeld bei den Fragen und Unsicherheiten zu unterstützen, die sie gerade haben, Schritt für Schritt in neue Situationen hineinzubegleiten und damit Sicherheit zu ermöglichen.
Das besondere an der Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist, dass der/die Betroffene alles bei vollen Bewusstsein mitbekommt. Ein Patient sagte einmal zu mir, dass es für ihn das Schwierigste ist, in so einem umfassenden Ausmaß auf Hilfe angewiesen zu sein – obwohl er alles spürt. Sich in fremde Hände begeben zu müssen ist eine sehr große Herausforderung. Ein ganz einfaches Beispiel: Bei einem Krankentransport spürte dieser Patient, dass er fallen wird. Er sagte dies den Helfern. Diese meinten daraufhin: ‚Nein, nein, das geht schon, wir wissen schon was wir tun’ und im gleichen Moment ist der Patient auf dem Boden gelandet. ALS PatientInnen brauchen Menschen, die sie kennen und auf die sie sich verlassen können,.“
Wie viele Betroffene gibt es in Tirol?
Stefanie Gläser: „An der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck wurde in der Arbeitsgruppe von Prof. Wolfgang Löscher eine Studie gemacht, aus der hervorgeht, dass in Tirol zwischen 23 und 28 Personen an ALS erkrankt sind. Man weiß, dass jedes Jahr 1 -3 von 100.000 Menschen an ALS erkranken. Diese Inzidenz- und Prävalenzdaten sind überall sehr ähnlich.“
Wie können Betroffene mit dem ALS Netzwerk Kontakt aufnehmen?
Stefanie Gläser: „Als erste Anlaufstelle dient die Hotline der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft: Tel. 0810 969 878. Diese Nummer und andere Informationen finden sich auf einem Flyer, der Betroffenen nach der Diagnosestellung ausgehändigt werden kann.
In welcher Region bietet das Netzwerk seine Leistungen an?
„Unsere Idee ist es, dass wir grundsätzlich ALS-Kranken in ganz Tirol telefonisch und bei Bedarf persönlich mit unserem Angebot zur Verfügung stehen. Dazu brauchen wir natürlich Partner in den Regionen, die dann kontinuierlich vor Ort den PatientInnen unterstützend zur Seite stehen. Wir möchten den Menschen mit ALS in Tirol und auch ihren Betreuenden das Leben im gesamten Krankheitsverlauf erleichtern.“
Über Stefanie Gläser:
Stefanie Gläser ist seit Mai 2012 Physiotherapeutin auf der Hospiz- und Palliativstation und leitet das ALS Netzwerk der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft.
Weiterführende Links:
Neuromuskuläre Ambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck
Das ALS Netzwerk der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft
“Lerne leben!” – ALS Patient Gerhard Schöpf spricht über sein Leben und seine Krankheit
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